Circus Sonnenstich - Mimoto schenkt dem Zirkus die Seele
Circus Sonnenstich Berlin
Circus Sonnenstich - Mimoto schenkt dem Zirkus die Seele
Es ist ein Moment, wie ihn sich alle Artist:innen wünschen: Der Saal ist ausverkauft und die Energie springt von der Bühne aufs Publikum über. An zwei Abenden begeistert die Show Mimoto im Berliner Atze-Theater bedingungslos. „Die Seele schenken“ steht auf dem T-Shirt des Artisten Luzian Bücker. Wenn er in der Show Mimoto das Diabolo tanzen lässt, dann springt der Funke über. Man könnte auch sagen, dann kommt die wahre Seele des Zirkus zum Vorschein.

Schon bevor die Show Mimoto des Circus Sonnenstich beginnt, entsteht zwischen Publikum und Artist:innen eine unsichtbare, aber lautstarke Verbindung. Hinter dem Vorhang ertönt ein Schrei, ausgestoßen von einer Gruppe, deren Mitglieder sich einander aufmuntern, stützen und antreiben wollen. Prompt reagieren die Gäste im Saal mit einem ebenso anfeuernden Ruf. Dann hebt sich der Vorhang und im Berliner Atze-Theater springt von der ersten Szene an der Funke von der Bühne auf den Saal über. Es gibt Zwischenapplaus, Jubelrufe und rhythmisches Mitklatschen zum basshaltigen Sound. Am 22. und 23. Mai, den einzigen beiden Aufführungstagen der Show Mimoto, passiert das, wovon alle Artist:innen träumen: Die Seele des Zirkus beherrscht den Saal.
Ein Grund dafür, dass dies gelingt, ist nicht zuletzt, dass zu spüren ist, dass die Artist:innen zu einhundert Prozent im Hier und Jetzt sind, sich auf den Moment konzentrieren, an nichts anderes denken als an ihr Stück. „Die Seele schenken“ steht zum Beispiel auf dem T-Shirt des Artisten Luzian Bücker. Wenn er sein Diabolo wild und schnell tanzen lässt, dann will er genau das: Sein Diabolo wild und schnell tanzen lassen. Und nicht zeigen, dass er es besser kann als andere. Und nicht den nächsten Karriereschritt anbahnen. Und nicht sich einen Namen machen. Er will sich ausschließlich seiner Freude an dem gelungenen Tanz des sich teuflisch drehenden Diabolos hingeben. So wirkt es und so glaubt man es.
Über 20 Artist:innen stehen in der Show Mimoto abwechselnd auf der Bühne. Die meisten von ihnen haben Trisomie 21. Sie zeigen in 21 Szenen Zirkuskunst mit Laufkugel, Cyr Wheel, Rola Bola oder Trapez. In vielen Szenen dominieren Choreographie, Tanz und Bewegung. Crossover nennt Circus Sonnenstich diese Mischung aus Zirkus und Tanz. Die Besonderheit, dass das Ensemble zahlreiche Artist:innen mit Trisomie 21 hat, wird weder betont noch versteckt. Was zählt, ist die Ernsthaftigkeit. Und eine ernsthafte Beschäftigung verlangt das Thema der Show zweifellos. Mimoto ist das japanische Wort für Identität. „Schau mich an!“, fordert ein Lied am Ende der zweistündigen Show auf. Wer bin ich, wie sieht man mich? Der Untertitel der Show heißt: „Eine Zirkusreise zur eigenen Identität“. Deshalb trägt beispielsweise die Trapezartistin Sarah Walther ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fliegerin sein“. Auf Sascha Perthels T-Shirt ist zu lesen: „Ich tanze mit meinen Armen“. Eine andere, eine poetische Selbstbeschreibung lautet: „Ich fühle mich tropisch“.

Mimoto ist eine anspruchsvoll produzierte Show, deren Bestandteile von Kostüm- und Bühnenbild bis zum Sound professionell realisiert werden. Anders ist, dass es nicht artistische Spitzenleistungen sind, die das Publikum begeistern. Mimoto berührt, weil die Artist:innen mit Trisomie 21 an ihre Aufgabe in einer Weise herangehen, wie man es eigentlich von einer Show erwartet und wie es doch so selten Menschen hinbekommen. Wenn die Artist:innen in Mimoto auf der Bühne sich ihren Kunststücken hingeben, dann ist mehr zu erleben als hohe Konzentration und starke Anspannung. Dann herrscht auf der Bühne unverstellte Leidenschaft. Dann existieren Wettstreit, Eitelkeit und Konkurrenz irgendwo draußen in der Stadt, aber nicht im Saal. Die Artist:innen in Mimoto gewinnen die Herzen der Menschen, indem sie sich voll und ganz der Seele des Zirkus widmen und alles andere beiseitelegen können. Indem sie dem Zirkus ihre Seelen schenken, schenken sie dem Publikum die Seele des Zirkus.
Mimoto ist die dritte Entwicklungsstufe einer Show, die in den zurückliegenden Jahren mit Karak Visions und Journey to Mimoto begann. Der Grundgedanke von Mimoto ist, eine Show zu produzieren, in der Menschen mit Trisomie 21 nicht bloß beteiligt sind, sondern sich inklusiv einbringen. „Im Theater gibt es das schon viel mehr. Komischerweise ist der Zirkus noch eine Sonderzone, wo es kaum Inklusion im professionellen Bereich gibt“, sagt Michael Pigl in einem Radiointerview. Er hat den Circus Sonnenstich 1997 gegründet. Seitdem trainiert das Team mit dem Ensemble und stellt Shows auf die Beine.
Aktuell üben im Zirkus rund 50 Menschen mit Trisomie 21. Einige sind in der Gruppe Sonnenstich Starter, andere in der Gruppe Aufbau, und 18 Mitglieder hat das Ensemble, das für professionelle Auftritte probt. Eine feste Spielstätte hat der Circus Sonnenstich nicht. Und das, obwohl das Ensemble zu internationalen Festivals eingeladen wird. Für den Auftritt im Berliner Atze-Theater muss Circus Sonnenstich das Atze mieten. Da haben inklusive Theater in Berlin wie Thikwa und Ramba Zamba mit eigenen Häusern einen Vorsprung. Circus Sonnenstich nutzt dagegen fürs regelmäßige Trainieren eine Sporthalle.
Kurz vor der Aufführung, als etwas längere Probenphasen nötig wurden, konnte Circus Sonnenstich bei den berühmten Flying Steps in Kreuzberg üben. Sonnenstich bedankte sich bei der Premiere von Mimoto mit einer Stuhlreihe Ehrenplätzen, die für die Breakdance-Tanzgruppe reserviert wurde. Auch sie, technisch Meister der Körperbeherrschung, haben sich im Atze-Theater begeistern lassen von der zum Leben erweckten Seele des Zirkus.
Andrei Schnell