"Hedonia" zeigt die interdisziplinären Möglichkeiten von Zeitgenössischem Zirkus

Zeit für Zirkus 2023

"Hedonia" zeigt die interdisziplinären Möglichkeiten von Zeitgenössischem Zirkus | Zeit für Zirkus 2023

Das Festival Zeit für Zirkus zeigt an drei Tagen in zahlreichen Städten die Bandbreite des zeitgenössischen Zirkus. Das in Berlin gezeigte Stück Hedonia von Clara Cortés und Moritz Grenz spielt mit den Grenzen dieser Bandbreite: Welche interdisziplinären Möglichkeiten bietet der Zeitgenössische Zirkus?

Zeit für Zirkus 2023
"Clara Cortés und Moritz Grenz im Gespräch" (Foto: Andrei Schnell)

Unüberhörbar sind die Zuschauer:innen beeindruckt. Sie stehen in einem kleinen Saal, das Licht ist gerade wieder angegangen, der Applaus ist eben erst verklungen. Kleine Gruppen bilden sich und es sind Satzfetzen zu hören wie „Und dann am Schluss …″ und „Beeindruckend fand ich, wie …″ und „Das ist ja wirklich die Frage, ob …″ Soeben zu Ende gegangen ist Hedonia von Clara Cortés und Moritz Grenz. Das 60-minütige Stück ist Teil des Programms von Zeit für Zirkus.

Zeit für Zirkus ist ein bundesweites Festival, das das gesamte Spektrum des zeitgenössischen Zirkus präsentiert. Die Kuratoren des Festivals haben Hedonia in das Programm aufgenommen. Aber ist das Stück damit noch innerhalb oder doch schon außerhalb des Spektrums zeitgenössischen Zirkus? Diese Frage lässt sich möglicherweise mit einer Beschreibung dessen klären, was auf der Bühne geschieht. Dort treten nicht nur die beiden Darsteller:innen Clara Cortés und Moritz Grenz auf. Mindestens genauso wichtig wie die beiden Akteur:innen aus Fleisch und Blut ist die Kamera, die mit Echtzeitübertragung und künstlicher Intelligenz ausgestattet ist. Während die Menschen einen großflächigen, grünen Kunstrasen als Bühne nutzen, erhebt die Kamera eine Leinwand an der Rückseite des Saals zu ihrer Bühne. Rasen und Leinwand haben fast die gleichen Ausmaße. Damit sind sie – wie sich im Laufe des Stückes herausstellt – mindestens gleichermaßen wichtig.

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"Moritz Grenz" (Foto: Andrei Schnell)

In Hedonia mischen sich Musik, Gesang, Duft, Video, Schauspiel, Tanz – und ja auch ein wenig Akrobatik. A new digital tech circus versprechen Clara Cortés und Moritz Grenz, übersetzt: ein Zirkus mit den neuen digitalen Technologien. Damit ist Hedonia gut beschrieben, denn Regie und Choreographie geben der sogenannten künstlichen Intelligenz viel Raum für ihr eigenes Spiel. Die Reaktionen der Zuschauer:innen zeigen, dass das Stück damit einen Nerv der Zeit trifft. Hedonia ist unbestreitbar gelungen.

Und doch bleibt die Frage: Auf was haben die beiden jungen ausgebildeten Artist:innen Clara Cortés und Moritz Grenz bei der Entwicklung von Hedonia die den Fokus gelegt? Akrobatik?  Ist es Musik? Ist es Theater? Ist es ein Performing Art?

Vielleicht ist es nicht ratsam, Fragen dieser Art zu stellen. Schließlich ist das Stellen von Fragen eine eigene Kunst. Das zeigte sich auch beim Publikumsgespräch nach der Show. Hier drehte die Moderation den Spieß um und richtete ihre ersten Fragen an das Publikum statt an die Künstler:innen. Die Wortmeldungen kamen zögerlich. Eine Person wagte es schließlich, spontan ihre Gefühle zusammenzufassen. „Das Stück macht, dass ich mich distanziert fühle und gleichzeitig traurig.″ Es sei um die schöne Leere gegangen. Und eine zweite Stimme aus dem Publikum warf die Frage auf, warum es des menschlichen Körpers überhaupt bedürfe, wenn – wie im Stück zu sehen – das digitale, körperlose Leben besser funktioniere. Die Frage der Moderation, welche Reaktionen ungewohnte Formen wie zeitgenössischer Zirkus bei den Zuschauer:innen auslöse, blieb ohne Antwort. Offenbar honoriert das Publikum gute Aufführungen unabhängig von Schubladen.

Zeit für Zirkus 2023
"Clara Cortés" (Foto: Andrei Schnell)

Honorieren heißt an dieser Stelle, dass die Spielstätte Katapult in Berlin-Oberschöneweide ausverkauft war. Offenbar kommt das bei den sporadischen Veranstaltungen im Atelier Katapult nicht oft vor. Das liegt vermutlich daran, dass der Stadtteil abseits der ausgetretenen Kulturpfade Berlins liegt. Das Festival Zeit für Zirkus kann diesen Punkt als Erfolg für verbuchen: Es hat einen Lichtkegel auf das Atelier Katapult gelenkt.

Zeit für Zirkus veranstaltet in diesem Jahr zum dritten Mal das bundesweite Programm für zeitgenössischen Zirkus. In neun Städten und im Ruhrgebiet zeigen 30 Aufführungsorte an drei Tagen über 50 Aufführungen, Workshops, Ausstellungen, Konzerte und laden auch zu Partys ein. Zeit für Zirkus ist Teil der internationalen La Nuit du Cirque. Die Nacht des Zirkus hat das Netzwerk Territoires de Cirque im Jahr 2019 in Frankreich gegründet.

Andrei Schnell