Im Sog des Spiegels mit Gravity & Other Myths
The Mirror im Chamäleon Theater Berlin
Im Sog des Spiegels mit Gravity & Other Myths
Die australische Company Gravity And Other Myths (GOM) fasziniert bis Ende Oktober in Berlin mit ihrer neuen Show „The Mirror‟. Die ist in der Ausstattung maximal reduziert und schlägt das Publikum ausschließlich mit Gesang und Körperlichkeit in ihren Bann. Gastgeber ist das Chamäleon in den Hackeschen Höfen.
Vor dem roten Vorhang steht ein Kassettenrekorder. Er wird eines der wenigen Objekte sein, die während der im Sommer produzierten Show The Mirror zum Einsatz kommen werden. Wenn sich der Vorhang hebt, ist vor allem ein Nichts zu sehen. Die australische Gruppe Gravity and Other Myths (GOM) haben die Bühne leergeräumt. Sie verzichten auf Trapez, Hochseil, Stöcke, Treppen, Gestelle. Die Akrobaten sind – beinahe wortwörtlich – nackt und auf sich allein gestellt. Sie füllen die 90-Minuten-Show mit ihrer Präsenz. Für Sprünge und Salto dienen die Körper der jeweils anderen Akrobat:innen als Rampe. Der Rekorder, entlang der Bühnentechnik verschiebbare Stoffbahnen, eine LED-Wand für Sofortbilder, das sind die erlaubten Hilfsmittel, die der dramatisch gesteigerte Verzicht zulässt. Wer einen Beweis nötig hatte, dass GOM zu den Besten der Szene gehören, der wird sich überzeugen lassen von dem unwiderstehbaren Sog, den Artisten und Sänger Ekrem Eli Phoenix trotz dieser Reduktion erzeugen.
Alles beginnt scheinbar harmlos mit dem Kassettenrekorder. Ekrem Eli Phoenix tut in den ersten Minuten so, als nähme er das Abspielgerät in Betrieb. Wechselt dann deutlich sichtbar zum Mikrofon und beginnt Popsongs zu singen, die er nach und nach in einen Soundteppich verwandelt. Zeitgleich mit dem Gesang setzt die Artistik ein. Und damit beginnt ein Wettstreit zwischen Ton und Körper. Soll die Zuschauerin die Augen schließen, um der Musik zu lauschen, die so vertraut wie die Klänge einer Kassette mit Tiefensuggestion ist? Oder soll der Zuschauer die Ohren abschirmen, um nichts von der Vorstellung der neun Artist:innen zu verpassen? Was langsam beginnt, steigert sich, zieht die Zuschauer:innen peu à peu hinein in eine Zwischenwelt, in einen Zustand, der zwischen Wach und Weg schwebt. Der Pop-Mash-Up von Ekrem Eli Phoenix beginnt immer wieder mit vertrauten Liedzeilen, fängt mit diesen die Zuschauer:innen ein, überführt den Gesang dann in bloße Vibration und reinen Klang. Auch die Artisten starten mit einfachen Drehungen, gehen in Tanzbewegungen über, um schließlich dreistöckige menschliche Türme und Pyramiden aus Körpern zu bauen. Das Publikum erlebt dabei ein Spiel neun gegen eins: neun Akrobaten ringen mit der einen Stimme. Manchmal dienen die Neun, bauen Ekrem Eli Phoenix einen lebenden Balkon. Dann wiederum ist der Sänger das Objekt, die Artisten packen ihn, stellen ihn auf den Kopf und testen, ob er dennoch in der Oktave bleibt. Man sieht einen Thron aus Leibern. Man sieht, wie Menschen sich gegenseitig auf die Schultern und manchmal auf den blanken Kopf steigen. Man sieht, wie ein Mann zwei andere Menschen trägt und die Show stoppt und wie dann Sekunde um Sekunde um Sekunde vergeht, der Artist sichtlich schwerer atmet, bis das Ende seiner Kraft hörbar wird. Nach und nach wird das Publikum durch das Gegenspiel von Schall und Körper auf eine seltsame Art gefangen genommen, sodass der Applaus – an manchen Terminen stehend geschenkt – als Auflösung und Ausgang erscheint.
Stellt sich die Frage: Wo war der Eingang? Fing alles mit Druck auf die Taste Play des Kassettenrekorders an? Oder doch irgendwann später? In der Kunst sind Spiegel oft Türen. So ist es in dem alten Buch Alice im Wunderland und so ist es in dem neuen Film Matrix 4. Auch die Show The Mirror funktioniert wie diese Spiegel in der Kunst als Tür. Die Aufführung zieht die Zuschauer:innen hinüber in eine andere Welt, hinein in einen Rausch, einen Trance, einen Traum. The Mirror zeigt „Extreme, die Menschen bereit sind zu gehen, um anderen zu gefallen‟, heißt es im Begleitheft. Träume und die in der Kunst auftretenden Spiegelbilder verlangen eine Deutung. Und die führt zur besseren Erkenntnis des eigenen Ichs. Zur „Reflexion über die verborgenen Aspekte von uns selbst‟, wie die Autoren des Programmhefts schreiben.
Wer erleben möchte, was geschieht, wenn der Rekorder eingeschaltet wird, der hat dazu im Chamäleon bis 30. Oktober fast täglich Gelegenheit. Die Karten kosten zwischen 37 und 61 Euro. Ab dem nächsten Monat bietet das Chamäleon den Künstler:innen von GOM bis 31. Dezember eine Bühne für die vor Corona kreierte Show „Out of Chaos“. In der ersten Januarwoche ist in den Hackeschen Höfen die Show A Simple Space aus dem Jahr 2013 zu sehen. GOM sind aktuell als Company in Residence im Chamäleon zu Gast. Das Residenzprogramm hat das Theater 2021 erstmalig aufgesetzt. Dabei handelt es sich nach eigenen Worten um ein „Produktionskonzept‟, mit dem Künstler unterstützt werden und „herausragende‟ Stücke neu bearbeitet werden. Übrigens ist das Theater in den Hackeschen Höfen in der Mitte Berlins seit Januar 2022 gemeinnützig. Geschäftsführer Hendrik Frobel sagt zu dem Wechsel der Rechtsform nach 16 Jahren: „Wir haben es immer als eine Art Selbstverpflichtung gesehen, alle Erträge zurück in unsere Arbeit zu investieren.‟ Inhaltlich will das Chamäleon „unser Selbstverständnis als Produktions-, Kreations- und Aufführungsstätte für zeitgenössischen Zirkus noch konsequenter leben‟, wie in einer Mitteilung steht.
Die Company Gravity And Other Myths gründeten Artist:innen im australischen Adelaide im Jahr 2009. GOM, die zahlreiche internationale Preise gewonnen hat, zeigt Bewegungstheater („physical theatre‟). Regie führte Darcy Grant.
Andrei Schnell
Service
- 17. August – 30. Oktober 2022
- Infos gibt es im ZirkusPlus-Veranstaltungskalender