Journey to Mimoto: Reise zum Ich im inklusiven Wir

Circus Sonnenstich Berlin

Journey to Mimoto: Reise zum Ich im inklusiven Wir

Der Berliner Circus Sonnenstich hat mit Journey to Mimoto eine Show entwickelt, in der das Zusammenspiel entscheidend ist. Artist:innen mit Trisomie 21 finden in dem professionell angelegten Stück ihre Rolle. Bei der Aufführung bei der Gastspielreihe Play im Berliner Chamäleon war das Publikum an zwei Abenden begeistert.

Circus Sonnenstich Journey to Mimoto
"Es springt ein Funke über, und der entzündet sich am Ganzen, das größer ist als die Summe seiner Teile." (Foto: Kay Herschelmann)

Die rund 270 Sitzplätze im Berliner Chamäleon waren beim Gastspiel des Stücks Journey to Mimoto ausverkauft. Und das an beiden Abenden (31.1. und 1.2.). Wochen im Voraus. Dabei hatten sich keine Weltstars angekündigt. Auf der Bühne standen gut 20 Artist:innen des Berliner Circus Sonnenstich, einem inklusiven Zirkusprojekt, das Menschen mit Trisomie 21 den Weg auf die große Bühne ebnet. Journey to Mimoto ist professionell inszeniert und durch diese Professionalität gelingt ein Miteinander, das das Publikum begeistert hat.

Professionell heißt im Fall von Journey to Mimoto ernsthaft. Die Konzentration und die Anspannung der Darsteller:innen ist im Saal bis in die letzte Reihe spürbar. Das Publikum ist begeistert, wenn eine offenbar schwierige Übung gelingt. Wenn eine Rolle am Trapez mit einer sicheren Landung auf den Schultern des Partners endet.

Professionell heißt emotionale Distanz. Wenn Sol Rein-Saunders, Olivia Wolff, Oskar Schenck oder zum Beispiel Elias Massing sich auf der Bühne zeigen, dann tun sie das deutlich nicht als sie selbst, sondern als Darsteller:innen. Es sind Gefühle der Anerkennung, die die Aufführung erzeugt. Etwa wenn eine Artist:in auf dem Laufball balanciert.

Und drittens steht professionell für ein anspruchsvolles Zusammenspiel. Zum Beispiel in der Nummer, wenn sich Trainerin und Tänzerin gemeinsam von Hoop-Reifen gefangen nehmen lassen; und schon bald nicht mehr klar ist, ob die beiden Darstellerinnen die sechs Reifen für die von ihnen gewünschte Wirkung einsetzen oder ob es die Reifen sind, die mit Menschen agieren. Ein starker Moment, der deutlich macht, dass das Zusammenspiel in Journey to Mimoto der entscheidende Faktor ist. Im Kleinen wie im Großen. Ideengeber Michael Pigl und Regisseurin Kaleen McKeeman haben mit den einzelnen Ensemblemitgliedern, die für Scheinwerfer, Leuchtdioden, Nebel, Sound und Kostüme verantwortlich sind, ein Stück geschaffen, das vom Zusammenspiel aller lebt.

Circus Sonnenstich Journey to Mimoto
"Der schönste Moment des Zusammenkommens von Publikum und den Darstellern mit Trisomie 21 war der begeisterte Schlussapplaus." (Foto: Kay Herschelmann)

Ein Zusammenspiel ist auch die Art, wie sich das eineinhalbstündige Stück in die Gastspielreihe Play einfügt. Mit dieser Reihe bringt das Berliner Chamäleon zum Jahresstart ausgewählte Stücke verschiedener Kompanien auf die Bühne. In dieser Serie von acht Shows ist Journey to Mimoto nicht etwa das Quotenstück. Das muss klar gesagt werden. Vielmehr hält es in seiner Besonderheit dem Vergleich mit den anderen Shows stand und ist ebenbürtig. Journey to Mimoto ist unterhaltsam und begeistert. Es springt ein Funke über, und der entzündet sich am Ganzen, das größer ist als die Summe seiner Teile.

Ein Wort zum Titel Journey to Mimoto. Das japanische Wort mimoto bedeutet Identität, Herkunft, Hintergrund. Die Mitglieder des Ensembles sind auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und Selbstverortung. Ein Vorgang, den niemand mal eben nebenbei erledigt. Dramaturg Frank Weiß drückt es im Programmheft so aus: „Wir Menschen besitzen die Fähigkeit, uns selbst von außen zu betrachten.″ Das menschliche Wesen mache es aus, „unser Ich innerhalb einer sozialen Gemeinschaft zu verorten″.

Deshalb gehört zum Stück Journey to Mimoto ein auf der Bühne angedeuteter Prozess, in dem die Artist:innen über sich selbst nachdenken. Regisseurin Kaleen McKeeman und ihr Team konzentrierten sich bei der Entwicklung der Show nicht ausschließlich auf Choreographie und Darbietungen. Sie legten dem Ensemble drei Fragen vor: Welche Superpower habe ich? Was mag ich? Was will ich schenken? Das sind im Grunde drei entscheidende Lebensfragen, die sich jeder einmal in Muße stellen sollte. Die Antworten der Artist:innen stehen auf ihren Kostümen. „Ich liebe Muskeln″ ist zu lesen, aber auch „Ich mag meinen Mund″, „Fliegerin sein″. Und auch das Miteinander kam in diesen Sätzen vor: „Kontakt gibt uns Augen″.

Circus Sonnenstich Journey to Mimoto
"Regisseurin Kaleen McKeeman (Mitte) und ihr Team konzentrierten sich bei der Entwicklung der Show nicht ausschließlich auf Choreographie und Darbietungen." (Foto: Kay Herschelmann)

Der schönste Moment des Zusammenkommens von Publikum und den Darsteller:innen mit Trisomie 21 war der begeisterte Schlussapplaus. Beinahe schade, dass dieser Augenblick nicht der letzte Eindruck war, mit dem die Zuschauer:innen nach Hause gingen. Erst die Dankesworte der Showverantwortlichen setzten den Schlussakkord. Dabei gebührt der größte Dank dem Circus Sonnenstich selbst. Seit Jahrzehnten hat er sich dem Miteinander von Menschen mit und ohne Trisomie 21 verschrieben. Die Gründung war 1997. Heute trainieren 50 Artist:innen mit zehn Trainer:innen in den Stufen Starter, Aufbau und Ensemble. Neben dem Circus Sonnenstich gibt es in Berlin weitere Zirkusprojekte, die inklusiv arbeiten. In der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg ist das renommierte Rambazamba beheimatet, das 1990 gegründet wurde. Ebenfalls 1990 gegründet wurde der Thikwa e.V., der seine feste Spielstätte in Kreuzberg hat.

Andrei Schnell