Maraña erweckt den Woll-Organismus zum Leben

Zeitgenössischer Zirkus

Maraña erweckt den Woll-Organismus zum Leben

Es ist eine Landschaft, die nicht von dieser Welt ist. Die Show Organismo der Kompanie Maraña spielt in einer gestrickten und gehäkelten eigenen Landschaft, zu deren Teil die Zuschauer:innen werden. Das ist keine klassische Show vor einem Hintergrund. Das Bühnenbild ist Hauptdarsteller:in.

Marana Zirkus
"Ein Ganzes, das die Zuschauer:innen immersiv umfängt." (Foto: Pablo Hassmann)

„Allein der Raum ist schon ein Erlebnis“, sagen die ersten beiden Zuschauerinnen, die am Freitag, dem 13. Dezember, den Saal des Pfefferberg-Theaters betreten. Nicht nur die Bühne, sondern auch die Wände und die Decke sind mit einem gestrickten und gehäkelten Überzug aus Wolle behangen. Lediglich die Stuhlreihen hat das ausgreifende Wolltuch nicht erobert. Wie viel Kilogramm (oder gar Tonnen) Wolle wurden hier verknotet?

Mit Organismo führen die fünf Artistinnen der Kompanie Maraña keine Show im klassischen Sinne auf. Vielmehr erwecken sie ein Wesen aus Wolle zum Leben. Wenn es sich denn um ein Lebewesen handeln soll. Vielleicht stellt das Strickwerk eine Unterwasserwelt mit zahlreichen Polypen und Korallenmündern dar. Oder es handelt sich um eine Szenerie auf einem fremden Planeten, wo Zuordnungen wie Tier und Pflanze und auch Bezeichnungen wie Einzelwesen und Gesamtorganismus verschwimmen.

Sicher ist nur, dass die grünen, roten, gelben Ringe und Kreise in der Wolllandschaft in Bewegung geraten. Tentakel wachsen und verschwinden, Öffnungen werfen Knäuel aus, Artistinnen gleiten aus Wollmündern und werden wieder verschluckt. Ihre Gesichter sind von riesigen, farbigen Haarbüscheln verdeckt. Denn hier genießen nicht die Akrobatinnen das Schweinwerferlicht. Die Aufführung ist eben nicht einfach eine Show vor einem überraschenden Hintergrund. Star des Abends ist das in Bewegung gebrachte Woll-Wesen, das Organismo.

Marana Zirkus
"Allein der Raum ist schon ein Erlebnis - sagen die ersten beiden Zuschauerinnen, die am Freitag, dem 13. Dezember, den Saal des Pfefferberg-Theaters betreten." (Foto: Andrei Schnell)

Bereits die schieren Ausmaße des gestrickten Organismus sorgen dafür, dass die Zuschauer:innen vollständig in das Stück eintauchen. Immersion nennen Digitalkünstler diese Wirkung, bei der die Betrachter:innen, umgeben von Videowänden, vollständig in das virtuell geschaffene Werk hineingezogen werden. Die Show Organismo erreicht den immersiven Effekt mit analogen Mitteln.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es derzeit kaum etwas Vergleichbares gibt. Im Zirkus. Oder im Theater. Die Zuschauer:innen tauchen ein in eine fantastische Welt; man könnte angesichts des Materials auch sagen, sie werden von ihr eingehüllt. Die Realität bleibt für 60 Minuten draußen.

Interessant ist, dass Paula Riquelme Orbenes vor einiger Zeit erzählte, sie habe zuerst das Bühnenbild entwickelt. Sie wollte einen Spielplatz für Artisten schaffen, wie sie formulierte. Deshalb sei zuerst die Wollwand entstanden. Dann habe sie die versteckten Trapezstangen hinzugefügt. Sie machen die Luftakrobatik möglich, die eng an dem stets in Bewegung bleibenden Patchwork-Organismus vorgeführt wird.

Die Metapher des Spielplatzes deutet an, dass es in dem Stück nicht um einen versteckten, tieferen Sinn geht. Paula Riquelme Orbenes wollte offenbar ein Stück schaffen, das vollständig der Kunst dient. So wie das Kind absichtslos spielt, so wird der Organismo ausschließlich für die zwecklose Kunst zum Leben erweckt. Und begeistern damit das Publikum.

Marana Zirkus
"Die Zuschauer:innen tauchen ein in eine fantastische Welt; man könnte angesichts des Materials auch sagen, sie werden von ihr eingehüllt. Die Realität bleibt für 60 Minuten draußen." (Foto: Pablo Hassmann)

Das Kunstwerk geschaffen haben die Choreographin Paula Riquelme Orbenes und fünf Artistinnen, die sich mit dem Musiker Andrés Aravena und dem Licht- und Sounddesigner Luka Gyhoa zur Kompanie  Maraña zusammengeschlossen haben. Sie haben ihre Basis in Berlin-Reinickendorf.

Mit der Show Organismo touren sie seit einigen durch Europa. Gegründet haben sie Maraña im Jahr 2018. Die Kompanie beschreibt sich als Frauenensemble. Die Artistinnen kommen aus Frankreich, den USA, aus Deutschland und aus Chile.

Auch die künstlerische Leiterin Paula Riquelme Orbenes wurde in Chile geboren. In Deutschland lebt sie seit 2017. Ihre Herkunft erklärt, warum sie für die Namen von Show und Kompanie spanische Worte nutzt. Maraña zum Beispiel. Wörtlich übersetzt bedeutet es Verwicklung, Gewirr, Wirrwarr. Diese Übersetzung birgt etwas Destruktives. Vielleicht wäre das deutsche Wort Knäuel eine in diesem Fall eine treffendere Übersetzung, auch wenn das Wörterbuch es nicht hergibt.

Auch der Showtitel Organismo weist darauf hin, dass das Gewirr nur scheinbar ist, dass sich in Wahrheit alles zu einem ineinander greifenden Ganzen zusammenfügt. Ein Ganzes, das die Zuschauer:innen immersiv umfängt.

Andrei Schnell