Pamela Banchetti – Ein Faden ohne Halt
Pamela Banchetti mit ihrem Stück "Forget Me"
Pamela Banchetti – Ein Faden ohne Halt
Thaddäus Maria Jungmann
Im Creative Center Contemporary Circus erzählt ein Körper, was Worte nicht schaffen. Forget Me beginnt mit einem starken Kontrast. Der Empfang ist liebevoll: Pamela Banchetti begrüßt das Publikum vor der Tür mehrsprachig, warm, beinahe fürsorglich. Doch beim Übergang in den beengenden Raum wird die Luft dichter, das Licht düster – Fürsorge kippt in Verunsicherung, Nähe in Beklemmung. In dieser dichten Atmosphäre erscheint selbst die weich gehäkelte Landschaft nicht als gemütliche Umgebung, sondern als Teil eines klaustrophobischen Settings. Zeitgenössischer Zirkus fernab von Freude und Feuerreifen – sondern ein roher Trommelwirbel hinab in düstere Narrative.
Ein Stück gegen das Vergessen
Forget me ist ein Märchen – aber keines, das beruhigt. Märchen spielen sonst „vor langer Zeit“ oder „in einem fernen Land“. Nun findet der Genozid in Gaza weder „vor langer Zeit“ – eher seit langer Zeit – noch in „einem fernen Land“ statt. Und vor allem: Er ist kein Märchen. Doch genau darin liegt die bittere Pointe.
Die Performance ist inspiriert von We Are Not Numbers von Ahmed Alnaouq und Pam Bailey – ein Buch, in dem junge Menschen aus Gaza ihre Realität beschreiben, als Gegenerzählung zu den glattgebügelten Narrativen der internationalen Berichterstattung. Banchetti öffnet genau diesen Spalt: Zwischen Märchen, die man uns verkauft, und der Wirklichkeit, die oft ungehört bleibt. Diesen Kontrast wird auch im Bühnenbild spürbar: Kleine hängende Wollbüschel an der Wand versprechen eine Weihnachtsgeschichte unterm Tannenbaum, doch die Performance entpuppt sich als düsteres Szenario à la E.T.A.
Hoffmann, bei dem bewusst die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verwischen. Die Gastgeberin, mittlerweile eingehüllt in einen gehäkelten Kapuzen-Strickmantel, bringt als furchteinflößende Wärterin Licht ins Dunkel, obwohl sie die Geschichte nicht erleuchten kann; beklagt mangelnde Kraft, um den Übergang zwischen unseren Welten zu ermöglichen. Und vielleicht liegt auch darin eine weitere Wahrheit: Solche Übergänge – besonders jene in Bezug auf Gaza – können nicht einfach gelingen. Sie wirken oft unmöglich, werden aus Überforderung oder Angst gar nicht erst versucht. Aber sie müssen gemacht werden. Und tatsächlich: Wir ziehen los, hinein in eine neblige Klanglandschaft zwischen Albtraum und 90er-Jahre-Run&Hide-Game.
Der Körper als radikale Erzählform
Das Abenteuer beginnt somit ohne Held:innenfigur; der Mensch zu schwach für menschliche Katastrophen. Stattdessen ein Frosch als vermittelnde Instanz: Wo einst ein Mund, schießen plötzlich zwei Glubschaugen heraus. Führt uns zu einer Großmutter. Doch kann man ihr trauen? Oder hat der Wolf wie in Grimms Märchen sich den Strickmantel übergestülpt?
Man möchte fragen: Großmutter, warum hast du denn eine Schürze an? Offenbar, um einen Kuchen zu backen – einen aus Leib und Seele: Arme werden ausgewrungen, Poren ausgequetscht, imaginäre Eingeweide aus der Vulva gepresst. Alles wandert in den geheimnisvollen Teig. Es sind die körperlichen Momente, in denen das Stück am stärksten wird: Wenn Banchetti mit ihrem Körper erzählt, statt ihn nur einzusetzen.
Wenn die Bühne zu atmen beginnt
Ein Höhepunkt: Die Landschaft erwacht. Die gehäkelte Bühne, vorher Kulisse, wird zum Lebewesen. Banchetti verschwindet darunter, Finger stechen durch die Maschen, Füße ragen hervor. Wo das Stück zuvor Gefahr läuft, sich in seiner eigenen Absurdität zu verlieren, entsteht hier ein sinnliches, klares Bild: Fantasie, die sich ihren Weg nach draußen bohrt.
Später häkelt sie live einen langen Faden – einen, an den man sich fast klammern möchte, um Halt in dieser Welt zu finden. Aber es gelingt nicht; soll vielleicht erst gar nicht gelingen; vielleicht soll sich das Publikum verstricken, gefangen gehen im Häkelnetz.
Und plötzlich Ausbruch der Großmutter: Mit beeindruckender Spiellust wirft sich Banchetti in die Figur, schreit, improvisiert, mutiert. Jede Schamgrenze fällt. Doch diese Intensität bekommt keinen Gegenspieler. Die Performance bleibt in ihrer eigenen Welt gefangen, ohne Schnitt, ohne Öffnung. Das wirkt weniger herzzerreißend als befremdlich.
Der Raum wird schwer, die Atmosphäre drückend. Einige im Publikum lesen darin die Tragik einer entfremdeten Großmutter, die sich selbst verliert – ein psychischer Ausnahmezustand, der im Schrei kulminiert. Andere denken an die Stimmen der jungen Menschen aus Gaza, die so oft ungehört bleiben.
Der Frosch als Rückkehr in die Wirklichkeit
Der Frosch führt zurück in die Realität, in der der Aufschrei manchmal bewusst ungehört bleiben möchte. Wie eine Matroschka schieben sich die Figuren wieder ineinander. Nach dem Ausbruch stellt Banchetti die Frage, die sich vermutlich viele stellen: What was the point of that? Eine entwaffnend ehrliche Frage.
Die Wärterin zweifelt erneut an sich, will ihre Identität in Nichtigkeit aufbröseln: „I’ll help you to forget me.“ Selten klang ein Satz zugleich so grausam und so zärtlich. Am Ende einmal mehr ein knallharter Stimmungswechsel: Im Schlussapplaus kehrt die freundliche Gastgeberin zurück, hat einen Kuchen gebacken. Großmutters Rezept bleibt ein Geheimnis – wie so vieles in dieser Welt aus Wolle, Fantasie und unvollendeter Verwandlung.
Thaddäus Maria Jungmann
*Dieser Beitrag ist Teil der Berichterstattung zu ZEIT FÜR ZIRKUS – ZEIT ZUM REDEN, organisiert vom Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus e.V. und gefördert vom Fonds Darstellende Künste und dem Kulturamt der Stadt Köln.