Sprung ins Selbstbewusstsein im Theater Thikwa

Zeit für Zirkus 2022

Sprung ins Selbstbewusstsein im Theater Thikwa

Um Furcht und Lebenskraft geht es in der Inszenierung „Der Sprung ins Ungewisse‟ (Leap … into the unkown) im Berliner Theater Thikwa. Sechs Mitglieder des Ensembles bringen ihre persönlichen Träume, Wünsche und Ängste ein. Und das beeindruckend offen.

(Foto: Andrei Schnell)

Künstler:innen, die authentisch sind, die sind im Theater Thikwa bei der Aufführung „Leap … into the unkown‟ zu erleben. Sechs von 44 Mitgliedern des Ensembles machen sich auf der Bühne nackt bis auf die Seele.

„Ich habe das Konzept hineingetragen, die Idee mit der Tischgesellschaft als Bild‟, sagt Camilla Milena Fehér. Sie spielt als siebte Schauspielerin mit, führt Regie und Choreographie und übernimmt das Sounddesign. Doch die Darsteller:innen sagen: „Das waren alles unsere Ideen‟. Sie haben die Texte über Angst und Risiko selbst geschrieben. Wie sehr sich die sechs mit dem Stück identifizieren, ist nach der Aufführung zu hören.

Schreien, Trampeln und Jubelrufe explodierten nach dem Applaus am 11. November hinter den Kulissen geradezu. „Das ist bei allen unseren Aufführungen so‟, sagen die sechs Bühnenspieler:innen, „wir freuen uns, dass alles geklappt hat‟. Aber wer weiß, vielleicht brach sich auch die Erleichterung Bahn, dass das Sich-Öffnen belohnt wurde. Es braucht mehr als ein Gramm Mut, um das eigene Ich auf die Bühne zu stellen. Und dieser Mut hat das Publikum berührt.  

(Foto: Andrei Schnell)

Rund 60 Minuten dauert die Aufführung. Sie beginnt mit Tellern, die die Truppe sortiert, zu „einem Turm zu Babel‟ mannshoch stapelt, fallen lässt, um dann mit den Scherben zu musizieren. „Teller sind eben nicht nur Teller, sondern eine Objektlandschaft, die sich laufend verwandelt und immer wieder neu gedeutet werden kann‟, heißt es im Programmheft.

Camilla Milena Fehér spricht nach der Show beim Künstler:innen-Gespräch von einer Utopie, auf die die Vorstellung vom Zirkus als Familie verweist. „Es geht um viel: den gemeinschaftlichen Traum vom Fliegen, den Traum zusammen eine neue Welt zu wagen.‟ So steht es in der Show-Beschreibung. In den von den Schauspielern während der Aufführung rezitierten Texten geht es um Sprung und Fall, Fliegen und fehlendem Halt. Um den Sprung ins Unbekannte und um den Sprung in die Arme des Anderen; um Sprünge, für die ein Fallschirm nötig ist. Doch die sechs auf der Bühne tragen auch ohne metaphorische Verpackungen ihre persönlichen Ängste vor. Vor dem Alleinsein, vor dem Tod der Eltern zum Beispiel. Unter dem Strich ist es ein Sprung ins Selbstbewusstein, den das Publikum erlebt.

(Foto: Andrei Schnell)

Wie es sich für einen Zirkus gehört, gibt es auch artistische Elemente in „Leap … into the unkown‟. Es gibt Jojo, es gibt das Trampolin, es gibt den Tanz mit wehenden Tüchern. In der Eigenbeschreibung lautet die Unterzeile zur Show deshalb auch Konzert-Performance. Das Stück ist Teil des „No Limits – Disability and Performing Arts Festival Berlin‟. Erste Aufführungen der Show gab es Frühjahr, nächste Termine sind für Anfang 2023 geplant.

Die Kuratoren von „Zeit für Zirkus‟ haben den „Sprung ins Unbekannte‟ ebenfalls für ihr Programm ausgewählt. Das ist zu verstehen als eine Ehre für die Darsteller:innen wie auch für die Leistung des Theaters Thikwa. Das Theater mit dem hebräischen Wort für Hoffnung im Namen erhielt 2019 den Theaterpreis des Bundes. Bemerkenswert ist der Anspruch, Menschen mit Behinderungen nicht bloß ins Bühnengeschehen einzubinden, sondern die Theaterarbeit der Schauspieler:innen in einem professionellen Rahmen zu organisieren.

Andrei Schnell