Wer spricht die Sprache des zeitgenössischen Zirkus? - Residenz für Deutsch-Finnischen Austausch

Berlin

Wer spricht die Sprache des zeitgenössischen Zirkus? - Residenz für Deutsch-Finnischen Austausch

Eine Podiumsdiskussion im Berliner Chamäleon startete mit der Frage, ob es im zeitgenössischen Zirkus ländertypische Unterschiede gebe. Die Runde kam aber schnell auf das Umfeld zu sprechen, in dem sich der zeitgenössische Zirkus befindet. Anlass für die Veranstaltung war das Ende der Residenz der finnischen Artistin Vilhelmiina Sinervo.

"Vilhelmiina Sinervo" (Foto: Andrei Schnell)

Was unterscheidet den zeitgenössischen Zirkus in Deutschland von dem in Finnland? So könnte man den Titel einer Veranstaltung auf den Punkt bringen, die am 28. Juni im Saal des Berliner Chamäleons stattfand. Die 0ffizielle Überschrift der Podiumsdiskussion lautete:  Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Handschrift des deutschen und finnischen zeitgenössischen Zirkus. Die junge finnische Artistin und Künstlerin Vilhelmiina Sinervo sagte spontan: „Ja, die gibt es″*. Dann überlegte sie einen Moment. „Finnischer zeitgenössischer Zirkus ist irgendwie dunkler.″ Und sie fügte hinzu: „Zumindest so, wie ich ihn mag‟.

Fakt ist, dass sich der zeitgenössische Zirkus international entwickelt und der länderübergreifende Austausch groß ist. Ist dennoch die regionale Herkunft der einzelnen Künstler:innen und Kompanien spürbar? Das ist offenbar eine schwierige Frage, wie sich beim Gespräch auf dem Podium zeigte. Statt der Metapher der Handschrift, auf die der Titel der Veranstaltung zurückgriff, nutzten die Teilnehmer:innen der Diskussion häufiger das Bild der Sprache. Und statt über regionale Unterschiede wurde auf der Bühne stärker nach gemeinsamen Problemen gefragt. Beispielsweise, ob genügend Beobachter:innen die Sprache erlernt haben, in der sich über zeitgenössischen Zirkus reden lässt. Denn Theaterjournalist:innen würden über den zeitgenössischen Zirkus mit den ihnen zur Verfügung stehendem Wortschatz schreiben. Dagegen würden wiederum Journalist:innen, die die Tanzszene beobachten, mit ihren Vokabeln arbeiten. Und für das potenzielle Publikum steht das Wort Zirkus oft genug für das traditionelle Zelt mit Manege, Nummernfolge und Tierkunsttücke.

„Auf der Bühne: Artist Benjamin Richter, Residentin Vilhelmiina Sinervo und Moderator Geordie Brookman" (Foto: Andrei Schnell)

Einer eigenen Sprache bedarf der zeitgenössische Zirkus vermutlich dringend. Auch deshalb, um ihn als selbstständige Kunstform zu etablieren. Gelänge dies, wäre es zum Beispiel leichter, Zuschüsse für Residenz-Stipendien einzuwerben. „Diese sind für die Künstler als Förderung des künstlerischen Schaffensprozesses vor der Aufführung wichtig″, sagt Anke Pohlitz, Intendantin des Chamäleons und zweite Vorsitzende des Bundesverbandes zeitgenössischer Zirkus (BUZZ).

„Chamäleon Theater Berlin" (Foto: Andrei Schnell)

Vilhelmiina Sinervo kann sich glücklich schätzen. Sie ist in den Genuss einer Residenz gekommen. Dank dieser konnte sie sechs Wochen lang mehrere Stationen in Deutschland besuchen, ihr Netzwerk erweitern und ihre aktuellen Arbeiten ausbauen. Mit Hilfe der Residenz lernte sie das Kölner CircusDanceFestival, das Zirkuskollektiv Pepe Arts in München und das Tollhaus in Karlsruhe kennen. Zum Abschluss ihrer Zeit in Deutschland zeigte die junge Finnin bei der Veranstaltung im Chamäleon, wie sie ihr Projekt Tonton weiterentwickelt hat. Auffällig an dem Projekt sind orangefarbenen Ganzkörperanzüge. Nicht sichtbar ist, dass diese auch von zufällig ausgewählten Menschen getragen werden können. „Sie können die Erfahrung machen, den Unterschied zu spüren, sich mit und ohne zu zeigen″, sagt Vilhelmiina Sinervo. Videos zeigen die Künstlerin und Artistin teilweise als Solo-Darstellerin im öffentlichen Raum. In anderen Sequenzen trägt beispielsweise ein Straßenmusikant den auffälligen Anzug. Er habe spontan zugesagt, bei der Aktion mitzumachen, so wie andere Menschen auch, die sie getroffen habe, erzählt Vilhelmiina Sinervo. Ihren Aufenthalt ermöglicht haben viele Stellen. Unter anderem das Finnland-Institut und die Goethe-Institute in Deutschland und Helsinki. Im nächsten Jahr soll der Austausch in die entgegengesetzte Richtung gehen. Dann wird eine Residenz in Finnland eine Artist:in aus Deutschland unterstützen.

Auf der Bühne diskutierten neben Vilhelmiina Sinervo fünf Expert’innen. Es sprachen Lotta Nevalainen von Circus Dance Info Finland, Tim Behren vom Circus Dance Festival Köln, Jarkko Lehmus vom Center for New Circus in Helsinki, Artist Benjamin Richter und Regisseurin Anna-Katharina Andrees. Dramaturg Geordie Brookman hatte die Moderation übernommen.

Andrei Schnell

* Alle Zitate aus dem Englischen übersetzt