Wintergarten feiert mit den Goldenen 20ern das Heute
Berlin
Wintergarten feiert mit den Goldenen 20ern das Heute
Die Show „Golden Years‟ im Berliner Wintergarten ist Nummern-Varieté im besten Sinne. Über gut zwei Stunden hinweg zeigt Programm zahlreiche Spitzenleistungen der Artistik. Während in den 1920er Jahren neue Frauenbilder die Öffentlichkeit provozierten, feiert „Golden Years‟ den entspannten Umgang mit neuen Geschlechterrollen.
Die Show „Golden Years – Die 20er Jahre. Varieté Revue No. 2‟ erzählt keine Geschichte und ist auch nicht im theatralischen Sinne dramatisch aufgebaut. Dafür strebt das Programm an, an einem Abend die möglichst besten Vertreter:innen ihres Faches zu versammeln. Die „Golden Years‟ wenden das klassische Varietérezept an, die Erwartungen der Gäste im Saal zu übertreffen. Ins Staunen versetzt werden die Zuschauer:innen noch bis zum 17. Februar, wenn die über 70-jährige Eliane Baranton mit ihren Zehenspitzen einen Tisch in der Luft herumwirbelt. Spürbar hält der Saal bei dieser Nummer die Luft an. Nicht weniger unglaublich ist der letzte Auftritt, bei dem einer der zwei Mohamed Brothers auf dem Kopf des anderen einen Kopfstand macht. So wie Luxus überwältigt, indem er von allem das Beste herauspickt, so beeindruckt „Golden Years‟, indem es Meister ihres Faches auf die Bühne bringt.
Die Broschüre zur Show gibt das Versprechen, dass „hautnahes, authentisches Spiegelbild jener uns bis heute faszinierenden 1920er Jahre‟ gezeigt wird. Aber keine Bange, eine originalgetreue Show aus dem Varietéleben der Zeit, die muss niemand erdulden. Auch das klassische Varieté folgt dem Wandel der Zeiten. Was in den 1920er Jahren als lasziv, provozierend und mondän empfunden wurde, ersetzt „Golden Years‟ durch etwas, das die heutigen Gemüter anregt, ohne sie aufzuregen. Und das ist die neue Körperwahrnehmung. Die Entscheidung, die neue Sicht auf den menschlichen Körper vorzuführen, war offenbar eine goldrichtige. Denn das Berliner Publikum feiert genau diese Momente. So juchzt es vor Vergnügen, wenn der Showmaster mit roten Hackenschuhen erscheint. Jubelrufe erhält Diva Tomasz, der in einer Travestienummer seine Freude am orientalischen Bauchtanz ins Publikum überträgt. Und ein „Oh‟ geht durch den Saal, wenn Santeri nur mit Unterhose und Muskeln bekleidet zur Stange schreitet. Fazit: Während das Nachtleben 1920er Jahre provozierte (Frauen im Hosenanzug), beweist „Golden Years‟, dass die neuen Geschlechterrollen für Wohlfühlmomente sorgen können.
Klassisches Varieté ist „Golden Years‟, weil es den charmanten Conferencier einbaut, weil es die Chanson-Dame die Umbaulücken überspielen lässt, weil es als Revue einzelner Nummern aufgebaut ist. Elf Solokünstler:innen, Duos und sogar Trios stehen beim Finale auf der Bühne. (Die Anzahl der Nummern, die Schlag auf Schlag abfolgen, ist deutlich höher, da manche Künstler:innen mehrmals auftreten.)
Der unaufdringliche Star des Abends ist Rodrigue Funke, der durch den Abend führt. Mit „ich bin schwarz, schwul und in Ostberlin geboren‟, erobert er die Herzen der Zuschauer:innen. Der ehemalige Trapez-Artist führte Regie, entwarf die Choreographie, entschied beim Bühnenbild mit, übernahm das Casting und moderiert das Variete. So geht Erfolg und Misserfolg der Show eindeutig auf sein Konto. Wobei das Wörtchen „Restkarten‟ im Ticketshop eine klare Sprache spricht.
Ohne die Stimmung verderben zu wollen. Aber die als golden apostrophierten 1920er Jahre waren in Wahrheit Jahre des Chaos. Die Fernsehserie „Babylon Berlin‟ fängt die Stimmung gut ein. Und trotz Anita Berber, Marlene Dietrich und Josephine Baker waren die 1920er Jahre nicht die große Zeit des Varietés, denn das Kino begann das Nachtleben zu verändern. Anders liegen die Dinge dagegen in der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit wurde der erste Wintergarten groß. Seine Anfänge liegen im Jahr 1887 im luxuriösen Central Hotel. „Der Wintergarten avancierte zum berühmtesten Nummerntheater Berlins und des Kaiserreichs‟, weiß Wikipedia. Die Feier des 30. Geburtstags des Wintergartens im vergangenen Jahr bezieht sich auf die Neugründung 1992 in der Potsdamer Straße.
Andrei Schnell