Zeit für Zirkus: Sisus und das Leben starker Frauen

Zeit für Zirkus 2023

Zeit für Zirkus: Sisus und das Leben starker Frauen

Die Finnin Inka Pehkonen und die Engländerin Imogen Huzel zeigen als Duo bei Zeit für Zirkus das Stück Memoirs of Mud. Bilder im Kopf, die von idyllischem Landleben und artigen Farmerfrauen handeln, werden in dem Stück konsequent zertrümmert. Was für den einen provokant wirkt, sorgt bei anderen für befreiendes Lachen.

Zeit für Zirkus 2023
"Das stiefelhohe Trockenmoor auf der Bühne ist echt. Der natürliche Ursprung ist wichtig, denn er bildet den Gegenpol zum Plastik der Kostüme. Schuhe, Taschen und Mäntel sind aus durchsichtigem Kunststoff." (Foto: Andrei Schnell)

Das Publikum im Varieté Salon auf dem berühmten Kunst- und Kulturgelände Ufa-Fabrik in Berlin reagiert unterschiedlich. Da ist zum einen das Oh-Oh-Lachen, das durch Slapstick hervorgerufen wird. Dieses Lachen ist zu hören, wenn Inka Pehkonen und Imogen Huzel Dinge tun, wie in rohen Ingwer zu beißen, sich Zwiebeln in die Augen zu reiben oder sich bis auf ein Luftröhrchen im Trockenschlamm zu vergraben. Und an anderen Stellen ist ein befreites Lachen zu hören, wenn Klischees über Land und Frauenleute ad absurdum geführt werden. Wenn die beiden überdreht zu einer Musik tanzen, die zu einer Rodeo-Arena passt. Oder wenn sie mit elektronisch verfremdeten Stimmen ein Barbie-Lied singen. Auf letzteres Lachen wollen die beiden Artist:innen mit Memoirs of Mud hinaus, wie ein im Foyer ausliegender Brief an die Zuschauer:innen beweist. Darin heißt es: „We give you full permission to laugh as our tragedy unfolds.″ Deutsch: Wir geben Ihnen die Erlaubnis zu lachen, während sich unsere Tragödie entfaltet.

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"We give you full permission to laugh as our tragedy unfolds." (Foto: Andrei Schnell)

Memoirs of Mud – also Erinnerungen an den Schlamm oder Erinnerungen aus Schlamm – haben die beiden Künstlerinnen ihre Show genannt, die sie am 1. Juni 2022 in tschechischen Trutnov uraufführten. Das stiefelhohe Trockenmoor auf der Bühne ist echt. Der natürliche Ursprung ist wichtig, denn er bildet den Gegenpol zum Plastik der Kostüme. Schuhe, Taschen und Mäntel sind aus durchsichtigem Kunststoff. Ein Kontrast, der die Komik der Situation auf der Bühne unterstreicht. Als Einführung in den Humor von Memoirs of Mud kann ein professionell anmutendes Musikvideo dienen, das auf YouTube veröffentlicht ist. Der vorgebliche Bandname lautet Fake Fucking Farmers. Vielleicht ist es dieser frei erfundene Bandname, der mit dazu beiträgt, dass in einigen Kurzkritiken zu lesen ist, das Stück sei provokant. Das Berliner Publikum zeigte sich alles andere als provoziert und nahm Memoirs of Mud als Anlass für ein Gelächter starker Frauen über Rollenklischees.

Entwickelt haben das Stück Inka Pehkonen und Imogen Huzel. Letztere ist Mitbegründerin von Fauna Circus und von Right Way Down. Die Handstandartistin hat eine eigene Show. Mit der Kompanie Sisus Sirkus, die als Träger der Show Memoirs of Mud fungiert, ist sie nur lose verbunden. Gegründet hat Sisus Sirkus Inka Pehkonen 2014 zusammen mit drei anderen Frauen. Sie ist Artistin, Produzentin und Musikerin. Das finnische Wort Sisu, das in Sisus Sirkus steckt, lässt sich nicht übersetzen. Gleichwohl sehen viele Finnen ihr Land durch diesen Begriff charakterisiert. Sisu ist verwandt mit Begriffen wie Willensstärke, Entschlossenheit, integres Handeln im Angesicht von Widrigkeiten.

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"Inka Pehkonen und Imogen Huzel von der Kompanie Sisus" (Foto: Andrei Schnell)

Diese innere Stärke und Beharrlichkeit brauchen nicht nur Artist:innen, sondern auch der zeitgenössische Zirkus in Deutschland insgesamt. Um den Rückstand zu europäischen Nachbarländern aufzuholen, muss die Szene noch viel tun. Ein Beitrag auf diesem Weg ist das bundesweite Festival Zeit für Zirkus, das das Forum Neuer Zirkus e.V. in Kooperation mit dem Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus (BUZZ) organisiert. Das dreitägige Festival ist eingebettet in die zeitgleich stattfindende internationale La Nuit du Cirque. Deutschland beteiligt sich an diesen Nächten des Zirkus zum dritten Mal. In diesem Jahr haben die Organisatoren von Zeit für Zirkus einen Fokus auf Berlin gelegt. Daher finden verhältnismäßig viele Veranstaltungen in der Hauptstadt statt. Im nächsten Jahr soll eine andere Stadt oder Region im Mittelpunkt stehen, um die ganze Bandbreite des zeitgenössischen Zirkus zu zeigen. Von ernsthaft bis schelmisch.

Andrei Schnell